Soroptimist Club Remscheid
 

Güte, Toleranz, Respekt und Verstandes-Nutzung – Ansichten einer Hundertjährigen

Zu Ehren ihres 100 Geburtstages unserer Clubschwester Ursula „Ulla“ Durach:

Unsere liebe Clubschwester, Ursula Durach, 100 Jahre alt, ist Zeitzeugin von sechs Generationen – von den eigenen Großeltern bis zu den Urenkelkindern. Sie hat über 80 Länder bereist. Seit 44 Jahre ist sie aktives Mitglied der FDP, seit 54 Jahren Soroptimistin. Ihre Ehe überdauerte 62 Jahre. Im Alter von 94 Jahren ging sie auf Catalina Island in Kalifornien „Ziplinen“ – zu Deutsch Seilrutschen. Im Alter von 95 schwingt sie noch das Tanzbein auf dem 50. Clubjubiläum der Soroptimisten Remscheid. Das sind nur einige der beachtlichen Erlebnisse und Erfahrungen der einhundertjährigen Remscheiderin.

Im Dezember 1922 erblicktest Du als 4. Kind eines Lehrers und einer Hortleiterin das Licht der Welt in Marienheide im Oberbergischen Kreis. Was sind Deine ersten bewussten Erinnerungen?

Ich erinnere mich an kalte Winter. Wir hatten bereits einen sogenannten „Dauerbrenner“ im Wohnzimmer und daneben gab es eine kleine Polsterbank – direkt neben der Bücherwand. Das war mein Platz. Ich habe schon als Kind leidenschaftlich gerne gelesen. Bildung hatte einen hohen Stellenwert in unserer Familie. Meine Mutter war der Zeit damals schon voraus und hat mich und meine Schwester sehr unterstützt, eine gute Bildung zu absolvieren. Nichts lernen, das ging nicht.

Und bei uns war es musisch. Mein ältester Bruder war Opernsänger, mein Vater Chorleiter. Ich selbst habe Klavier gespielt.

Eine weitere frühe Erinnerung ist auch, dass ich am Bahnhof Züge ankommen und abfahren sah. Mit drei Jahren war ich das erste Mal „auf Tour“ – sprich: ich war verloren gegangen und mit dem Zug unterwegs – ein anderes Mal wollte ich mit der Bahn zu meinen Großeltern fahren. Das war meine große Sehnsucht nach der großen, weiten Welt, die mich auch nicht mehr loslassen sollte.

Können wir Bildung, Musik und Reisen als Grundpfeiler Deines Lebens einmal genauer beleuchten?

Bildung: Du hast vielleicht als erstes Mädchen Deutschlands ein einjähriges Schreinerei-Praktikum absolviert, bevor Du in den 1930er Jahren an der Werkkunstschule in Wuppertal das Innenarchitektur Studium aufgenommen hast. Wie hat Dich das geprägt? Ich war das einzige Mädchen in der Berufsschule. Ein „Schreiner-Mädchen“ gab es zu dieser Zeit üblicherweise überhaupt nicht. Ich wurde behandelt wie jeder Junge und musste alles machen, was die Jungen auch taten. Das war nicht immer leicht, aber ich habe es eben gemacht. Ich bekam den Bezug zum Handwerk und es war eine gute Zusammenarbeit mit den männlichen Kollegen.

Geburtstagskonzert mit Bergischen Symphonikern und Clubschwestern

Musik: Welche Rolle spielt sie für Dich? Was sind Deine Lieblingslieder?

Ich selbst war am Klavier nur mäßig talentiert. Ich erinnere mich, dass wir im Krieg heimlich Musik gehört haben. Als Lieblingslieder fallen mir ein: “What A Wonderful World” und “Somewhere Over The Rainbow”. Auch ein Lied von den Black fööss (Kölsch für nackte Füße) – der Kölner Mundart und Karnevals-Band namens „Unser Stammbaum“ mag ich sehr. Übersetzt heißt es wie folgt:

So sind wir alle hier her gekommen – Wir sprechen heute alle dieselbe Sprache – Wir haben dadurch so viel gewonnen.

Ich erinnere mich, dass ich beim ersten Karnevalsumzug in Köln nach dem Krieg war.

Und ich habe ein musisches Ritual: Seit nun 50 Jahren höre ich an jedem Geburtstag das 4. Brandenburgische Konzert von Bach. An meinem 90. Geburtstag haben meine Clubschwestern des Soroptimist Club Remscheid das Stück einstudiert und gespielt – das hat mich sehr gerührt.

Reisen: Du konntest Dir 1966 vor Ort ein Bild der Kulturrevolution in China machen und warst eine europäische Pionierin in Kambodscha. In Deinen veröffentlichen Reiseberichten geht es immer wieder um Freiheit versus Reglementierung, wie auch um Toleranz und Verstehen.

Ja das Reisen war sehr wichtig für mein Leben, wie auch Freiheit, Toleranz und Verständigung. Obwohl wir uns damals in China eingestehen mussten, wie wenig wir es zu begreifen vermochten.

Reisen lehrt das Staunen?

Ja, in alle Richtungen: Kambodscha war für mich damals ein Beispiel religiöser Toleranz. Der Bayon – die Tempelanlage – beherbergt Buddhastatuen neben hinduistischen Darstellungen. Im Laufe der Jahrhunderte wurde Kambodscha zu einem buddhistischen Land; diese Entwicklung hat sich ohne Glaubenskämpfe und kriegerische Auseinandersetzungen vollzogen. Ich bin schon lange interessiert an vergleichender Religionswissenschaft, d.h. dem systematischen Vergleichen der Praktiken der Weltreligionen. Viele Religionen der Weltgeschichte sind mit 4000 Jahren relativ jung. Es ist spannend, wie prägend und bestimmend die Religionen für das Leben der Menschen und jedes Einzelnen sind.

Gibt es eine besonders schöne abgespeicherte Erinnerung von Deinen Reisen?

Die Sonnenauf- und -untergänge in Burma (heute Myanmar) und Nepal.

Was bedeutet Glück für Dich?

Glück ist so vielschichtig. Wenn ich raus in die Natur und in den blauen Himmel schaue, empfinde ich Glück. Für mich sind es oft die kleinen Freuden des Alltags. Menschen, die herzlich und freundlich sind und die ein Herz für andere haben, empfinde ich auch als Glück. Wenn die ganze Familie zusammen ist oder ich Zeit mit Freunden verbringen kann. Auch ist es Glück für mich, bei den Soroptimisten zu sein – das hat sich als richtiges Glück für mein Leben erwiesen – obwohl ich eigentlich gar nichts mit Vereinen zu tun haben wollte…

Wie kam es zu Deinem Eintritt bei den Soroptimisten und was genießt Du am Clubleben?

Ich hatte bereits von einer Düsseldorfer Freundin von den Soroptimisten gehört und fand die Ziele, Themen und Aufgaben sehr interessant. Gefallen hatte mir der Zusammenhalt wie auch die internationalen Verbindungen. Unsere wundervollen Besuche bei unseren Freundschaftsclubs in Europa und deren Besuch bei uns schätze ich sehr! Das verbindende und friedenstiftende ist mir sehr wichtig – soroptimistisches Clubleben ist für mich ein „Friedenswerk“. Ich finde es auch ganz wichtig zu sehen, was die anderen Clubs machen.

In meiner 54jährigen Clubmitgliedschaft habe ich so gut wie keine Museums-Tour verpasst, die wir regelmäßig dank einer Clubschwester machen.

Mir ist daran gelegen, dass wir noch öffentlicher werden. Die Nachrichten der Männerclubs hängen vieles an die große Glocke – da sind wir noch zu bescheiden. Wir sind nicht einem Männerclub „entsprungen“ – wir sind nicht die Gattinnen – wir sind die Originale.

Es sind einige tiefe Freundschaften durch den Club entstanden und man lernt Frauen kennen, die man sonst nie kennengelernt hätte. Der Club steht für mich auch für lebenslanges Lernen.

Du bist just an Christian Lindners Geburtstag 1979 in die FDP eingetreten und warst lange Jahre im Ausländerbeirat tätig, wie auch im Kultur- und Sozialausschuss.

Ja, meine Aktivität in der FDP ist ebenfalls ganz wichtig. FDP-Frauen wie Hildegard Hamm-Brücher und Liselotte Funke, die ich persönlich kennenlernen durfte, waren Vorbilder für mich. Sie haben sich sehr für das Völkerverbindende eingesetzt. Meine Vorbilder für Staat und Gesellschaft sind Gustav Stresemann, der als erster Deutscher den Friedensnobelpreis bekommen hat, zusammen mit dem französischen Außenminister Aristide Briand. Und ich denke, jeder kann auf seine Art etwas beitragen an der Gemeinschaft. ETWAS KANN JEDER.

Du berichtest als Zeitzeugin von den Manipulationen der Nazis und mahnst zum Nicht-Vergessen und Nicht- Verharmlosen der Zeit. Die letzten Kriegsjahre hast Du in Berlin verbracht und durftest nicht ausreisen, da du als technische Zeichnerin in einer kriegsrelevanten Firma tätig warst. Wie hast Du die letzten Kriegsjahre in Erinnerung?

Ja, die Behörde war streng und hat nicht zugelassen, das Mitarbeiter:innen ausreisten. Ich hatte eine kleine Wohnung in Berlin Charlottenburg. In diesem Haus lebten auch einige Remscheider. Der Krieg wurde immer schlimmer und wir mussten immer häufiger in den Keller. Wenn ich unterwegs war, musste ich auch einige Male in den Bunker, meist in den Bunker am Zoo. Wir haben einmal eine “Eimerkette” machen müssen, als wir aus dem Bunker kamen, um Feuer zu löschen. Dann gab es mal einen Anschlag auf Hitler im Nebenhaus und es wurden all unsere Wohnungen durchsucht.

Zum Schluss war Berlin schon sehr gespenstisch… die Flucht aus Berlin war so verrückt, Koffer kamen nicht an, es gab nichts zu essen, nichts zu trinken und es waren so viele Leute. Unterwegs fielen nochmals Bomben, man musste streckenweise zu Fuß gehen… Die ganze Reise habe ich gar nicht mehr richtig in Erinnerung. Ich weiß aber noch, dass ein Soldat mir zwischendurch geholfen hat, meinen Koffer zu tragen, also seine Hilfsbereitschaft ist mir in Erinnerung geblieben.

Wie hast Du in Deinem Leben Herausforderungen, Stress und Krisen bewältigt?

Mein Motto war immer: Lieber ein Licht anzünden als über die Dunkelheit zu klagen.

Was würdest Du anders machen, wenn Du Dein Leben nochmals von vorne leben könntest?

Ich würde vielleicht etwas sanftmütiger sein: ich wäre gerne etwas diplomatischer gewesen. In jungen Jahren wolle ich oft mit dem Kopf durch die Wand und war auf der anderen Seite ein bisschen zu verträumt und bin nicht gezielt genug voran gegangen. Der Realist bin ich erst spät im Leben geworden. Edith Piafs „Non, je ne regrette rien“ trifft nicht ganz auf mich zu: Jedes böse Wort Menschen gegenüber, die es nicht verdient haben, tut mir heute leid. Es tut mir leid, wenn ich nicht gerecht war.

Was wird mit dem Alter immer besser?

Ich bin dankbar ein außergewöhnlich schönes Lebensalter erreicht zu haben. Auch wenn alles etwas beschwerlicher wird: Ich genieße am Alter die Freiheit, Selbstständigkeit und Unabhängigkeit.

Warum glaubst Du, bist Du so alt geworden?

Ich habe kein Geheimrezept. Ich habe immer ganz normal gelebt – nie mit besonderen Vorsätzen. Ich habe es immer so genommen, wie das Leben sich ergab. Ich war immer sehr neugierig, etwas Neues zu erfahren.

Wissensdurst und Lebenshunger als Langlebigkeits-Elixier?

Dass ich die Entdeckung des Universums miterleben durfte, ist für mich ein großes Geschenk, welches für mich sensationell und wichtig war. Sehr inspiriert hat mich Steven Hawking.

Mit 98 Jahren habe ich mir Internet angeschafft.

Ich bin dem Forschergeist und Entdeckergeist dankbar – Menschen, die etwas bewirkt haben, verbessert haben und die das Verstehen vorangebracht haben. Für alle Bücher, die ich noch lesen möchte, müsste ich wahrscheinlich 300 Jahre alt werden und dann gibt es wieder neue Bücher.

Welche Träume und Wünsche hast Du?

Mehr Frieden in der Welt und eine bessere Entwicklung für die gesamte Menschheit.

Dass es der Familie gut geht. Und für mich persönlich würde ich gerne sehen, wie sich die Menschheit weiterentwickelt und was es noch alles zu entdecken gibt. Aber, der Wunsch ist nie ganz erreichbar.

Wird man im Alter wirklich gelassener?

Für Ärger hatte ich noch nie so viel Talent.

Welche Rolle spielen Glaube und Spiritualität für Dich?

Keine große Rolle. Ich hatte nie einen großen Bezug zur Kirche. Die weisesten Sprüche und Anleitungen bekomme ich aus dem Buddhismus. Was mich bei allem Respekt bei vielen Religionen stört, ist die Intoleranz – Toleranz ist leider zu oft Mangelware. Der Glaube hilft vielen Menschen und gibt ihnen Orientierung.

Mit welchen Gefühlen siehst Du dem Sterben entgegen?

Ich habe so gar keine Vorstellung davon, was nach dem Tod passieren soll. Wenn der Mensch stirbt und der Körper vergeht – wenn er nicht einbalsamiert wird – geht er in die Unendlichkeit allen Seins. Das leuchtet mir ein. Es geht ja nichts verloren.

Gab/gibt es etwas, was Dich von anderen doch unterscheidet?

Bereits als Kind hatte ich nur selten Angst. Ich hatte in meinem ganzen Leben nicht so viel Angst wie andere. Außer einmal direkt am Abgrund im Himalaya-Gebirge oder bei einer Kamikaze-Taxifahrt in Bangkok.

Was rätst und wünscht Du heute jungen Menschen?

Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen. Dieser Kernsatz des großen Aufklärers Immanuel Kant ist für mich zur Maxime geworden. Weiter wünsche ich Toleranz und Respekt vor der Meinung anderer. Es gibt auch Grenzen für Toleranz. Bei den Aktionen sich anzukleben, Kunstwerke zu zerstören und Krawall zu machen, hört mein Verständnis auf. Es geht nicht mit Holzhammer-Fanatismus. Meine Freiheit endet dort, wo die der anderen beginnt. Und Güte ist wichtig – ja ich rate zur Verstandesnutzung und Güte.

Liebe Ulla, herzlichen Dank für Deine sehr persönlichen Ein- und Ansichten!

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